Kinderkrankenpflege im Vietnamkrieg

Mitten im Vietnamkrieg Ende 1967 eröffnete das SRK in Da Nang einen Kinderpavillon, als Zusatzgebäude eines bestehenden Spitals. Bis 1970 war dauernd eine SRK-Equipe vor Ort. Sie bestand in der Regel aus einer Kinderärztin/einem Kinderarzt und drei Kinderkrankenschwestern, welche jeweils drei bis sechs Monate im Einsatz waren. Ziel des Einsatzes war der Aufbau und Betrieb des Kinderspitals. Neben der Pflege schwerkranker Kinder, gehörte dazu auch die Anleitung und Ausbildung des vietnamesischen Personals in der Kinderkrankenpflege.

 
Katastrophale Zustände in den vietnamesischen Spitälern

Die Bedingungen im Kinderpavillon waren bei Ankunft der Schweizer Equipe sehr schlecht. Auf zwei Stöcken wurden in anfangs 70 kleinen Kinderbetten weit über 100 Kinder gepflegt. Pro Tag gab es 10-15 Neueintritte und in der Regel mehrere Todesfälle. Vor allem die hygienischen Bedingungen waren prekär. Fliessendes Wasser gab es, wenn überhaupt, nur im Erdgeschoss. In den zweiten Stock musste es in Kesseln geschleppt werden. Windeln, saubere Bettwäsche, Matratzen etc. waren Mangelware.
Ausserdem hatte es nicht nur permanent mehr Patienten als Betten, zu jedem kam noch mindestens eine Begleitperson hinzu. Die relativ kleinen Kinderbetten waren darum konstant überbelegt, die Begleitpersonen, in der Regel Mutter, Grossmutter oder ein älteres Geschwister, lagen auf dem nackten Boden oder in behelfsmässig aufgespannten Hängematten.
Die massive und permanente Überbelegung verschärfte v.a. die hygienischen Probleme. Gleichzeitig überlebten die kranken Kinder nur dank ihren Begleitern, welche sie pflegten und Essen gaben. Denn eine Kinderkrankenpflege im westlichen Sinn war in Vietnam damals unbekannt. Das vietnamesische Spitalpersonal beschränkte sich auf das Verteilen von Medikamenten und Spritzen.

 
Kinderpflege zwischen Tränen und Lachen

Mit der ersten Ablösung kamen Ende Dezember 1967 die Zürcher Pädiaterin Dr. Rosmarie Nüssli und die erfahrene Kinderkrankenschwester Linda Clavadetscher nach Vietnam. Letztere hat ihre Eindrücke in einem Tagebuch und zwei Fotoalben festgehalten, welche wir hier auszugsweise präsentieren.
Das grosse Leid der vietnamesischen Bevölkerung, die schwierigen Verhältnisse im Spital, die durchwegs nicht den gewohnten Schweizer Standards entsprachen, müssen auf Schwester Linda wie ein Schock gewirkt haben. Bereits an ihrem ersten Arbeitstag lag ein totes fünfjähriges Mädchen in einem Bettchen. Am 21. Januar schrieb sie nach einem Besuch des örtlichen Waisenhauses:

"Die traurigen Augen, die mich überall anstarrten, verfolgten mich den ganzen Tag".

Ganz besonders bedrückte sie der meist sehr schlechte Zustand vieler Kinder, die oft "schmutzig und halbtot" im Spital eintrafen. Es hat ihr "jedes Mal einen Stich ins Herz versetzt, wenn wieder ein solches Kreatürchen bei uns eintraf". Viele der Kinder starben, was zusätzlich sehr belastend war.
Ablenkung bot hier nur die tägliche Arbeit, welche Schwester Linda mit viel Können und Enthusiasmus erledigte. Schwere Verbrennungen verlangten häufige, für die Patienten schmerzhafte Verbandwechsel. Die zum Teil schwer unterernährten Kinder mussten dauernd überwacht werden. Ebenso die Ernährung der Frühgeburten von oft nur wenig mehr als 1000 Gramm, ein schwerer Tetanus- oder ein Encephalitisfall. Zu pflegen galt es ausserdem "Durchfälle, Wurmgeschichten, Typhus, Pest, Pneumonien, Malaria, Malnutrition, Hautinfektionen, etc." Alle kleinen Patienten erforderten anspruchsvolle und zeitraubende Pflege.
Teilweise konnten die Arbeiten zwar durchaus durch vietnamesische Kolleginnen übernommen werden. Aber besonders zu Beginn mussten diese noch sehr eng begleitet und die Therapien dauernd persönlich überwacht werden. Den Arbeitsalltag beschreibt Schwester Linda als kurz, aber sehr streng. Besonders geschickt war Schwester Linda im Umgang mit ihren vietnamesischen Kolleginnen und Kollegen. Ihre engagierte und menschliche Art überbrückte die allermeisten sprachlichen oder anderweitigen Verständigungsprobleme.
Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit wurden ihr in Vietnam tagtäglich vor Augen geführt und erfüllten Linda Clavadetscher:

"Ich bin nötig hier, man hat mich freundlich aufgenommen und akzeptiert. Ich fühle mich glücklich."


Der Krieg kommt nach Da Nang

Das wichtigste Ereignis im vietnamesischen Jahr ist das Tet Nguyen Dan, das vietnamesische Neujahrs-Fest. Die Lage rund um das Fest 1968 war ausgesprochen ruhig, beinahe friedlich. Mitten in den Vorbereitungen darauf, am Vorabend des Festes dem 30. Januar 1968, begann völlig überraschend die heftige Tet-Offensive der nordvietnamesischen Streitkräfte und des Viet Cong. Diese Truppen rückten zu Beginn rasch vor und kamen auch bis Da Nang, wo einige Quartiere durch den Viet Cong kontrolliert wurden. In dieser äusserst gefährlichen Situation war die Arbeit der Schweizer Equipe besonders wichtig, denn das vietnamesische Personal wurde jetzt in erster Linie auf der Notfallstation des benachbarten Spitals eingesetzt. Und viele der Vietnamesischen Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger konnten gar nicht zur Arbeit gehen, weil ihre Bewegungsfreiheit wegen der Kriegsereignisse stark eingeschränkt war.

"Die ganze Stadt hat schon eine ganze Woche Ausgangsverbot, nur die Schweizerequipe ist mit dem Krankenwagen unterwegs"

schrieb die Kinderkrankenschwester Linda Clavadetscher im Februar 1968 in einem Brief an ihre Schülerinnen in Zürich. Das Weiterarbeiten für die kleinen, kranken Kinder war für alle Schweizerinnen trotz der Kriegsgefahr aber selbstverständlich.
Eine ganz besondere Beziehung entstand zu einem kleinen Baby, einer extremen Mangel- und Frühgeburt von vielleicht gerade 1000 Gramm. Seiner sterbenden Mutter hatten die Schweizerinnen versprochen gut für ihn zu sorgen. Weil er keine Angehörigen mehr hatte, übernahmen sie diese Aufgabe und nahmen ihn nachts sogar mit zu sich nach Hause.


Die MS Helgoland: Insel der Sicherheit

Wie dramatisch die Situation in Vietnam teilweise war, schildert eindrücklich der Bericht des Genfer Pflegers und Liga-Mitarbeiters Ulrich Schüle, der im Mekongdelta arbeitete. Zu ihrer eigenen Sicherheit konnte die SRK-Equipe auf dem Spitalschiff des DRK, der MS Helgoland, Schutz suchen. Es war zu einem schwimmenden Krankenhaus umgebaut und erfüllte von 1966-1971 seine neutrale Mission in Vietnam, die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung. Es wurde zwar von allen Konfliktparteien anerkannt und respektiert. Besonders nachts bestand aber die Gefahr, dass es, wenn auch ungewollt, hätte getroffen werden können. Darum lief es abends meist aus und ankerte in sicherer Entfernung.
Die Schweizer Equipe war v.a. während der Tet-Offensive auf der Helgoland. Dr. Nüssli vermerkte dazu in einem Brief an die Zentrale in Bern:

"Zur Zeit haben wir als fünftes Mitglied in unserer Kajüte noch ein Frühgebürtchen, weil es einer ganz speziell hingebungsvollen Pflege bedarf, die ihm nur Schwester Linda geben kann."


Doch, es hat sich gelohnt!

Bei der Arbeit der Vietnamesinnen stellte Frau Nüssli einen regelrechten Mentalitätswandel fest, so dass einer der einheimischen Schwestern sogar die Leitung eines ganzen Saales übergeben werden konnte.

"Das freut uns sehr, wurde uns doch bei unserer Ankunft gesagt, es sei unter der Würde einer ausgebildeten vietnamesischen Schwester Kinder zu waschen."

Die ganz allgemein verbesserte Situation seit dem Eintreffen der SRK-Equipe, die Erfolge der Pflege und v.a. das gute Vorbild der Schweizer Schwestern hatten diesen Wandel bewirkt. Und dieser war auch nachhaltig, wie Rosmarie Nüssli bei einem zweiten Vietnambesuch 1972 feststellen konnte. Dies gilt auch für die Station für Frühgeborene, welche während ihres ersten Einsatzes eröffnet worden war und der sie anfänglich sehr skeptisch gegenüberstand. Nachträglich bewertete sie diese Einrichtung positiv, „denn irgendwie haben dort die Schwestern gemerkt, dass sie für diese Kinder verantwortlich sind“, und dass sie die Pflege nicht einfach den Eltern oder älteren Geschwistern überlassen konnten.

„Da kam nachträglich gesehen vielleicht doch ein Lernprozess in Gang.“

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