Aufnahme von Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei
1968 war ein geschichtsträchtiges Jahr. Vor dem Hintergrund der festgefahrenen amerikanischen Militärintervention in Vietnam wurden in den westlichen Gesellschaften soziale, kulturelle und politische Auseinandersetzungen ausgetragen. Zugleich wurde das System, das Moskau in Osteuropa errichtet hatte, in der Tschechoslowakei von Grund auf in Frage gestellt. Mit dem Prager Frühling, der durch die Reformbestrebungen Alexander Dubčeks verkörpert wurde, war die Hoffnung auf einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» verbunden. Als jedoch am frühen Morgen des 21. August Panzertruppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschierten, wurde diese Utopie jäh zunichte gemacht. Vergeblich leistete die resignierte tschechoslowakische Bevölkerung passiven Widerstand. Ein Blutbad konnte zwar verhindert werden. Doch viele Tschechoslowaken waren völlig desillusioniert und entschlossen sich, ihr Land zu verlassen.
Rasche Integration
Zwölf Jahre nach der Aufnahme von ungarischen Flüchtlingen, die der sowjetischen Unterdrückung den Rücken gekehrt hatten, öffnete die Schweiz zum zweiten Mal ihre Grenzen für Menschen aus Osteuropa. Wie damals die Ungarn wurden auch die Tschechoslowaken von den Behörden und der Schweizer Bevölkerung mit offenen Armen empfangen. Die gut ausgebildeten Flüchtlinge – 56 Prozent verfügten über einen Hochschulabschluss – übten mehrheitlich einen freien Beruf aus. Dank der guten Konjunkturlage konnten sie sich rasch integrieren. Gemäss dem Plan für die Aufnahme der Flüchtlinge wurden in Buchs und St. Margrethen zwei spezielle Aufnahmezentren eröffnet, die vom SRK betrieben wurden.
Das SRK hatte vor allem die Aufgabe, die Flüchtlinge in Empfang zu nehmen. Sollte ihre Zahl 1000 Personen übersteigen, war vorgesehen, ein Detachement des Territorialdienstes der Armee einzusetzen. Insgesamt erklärte sich die Schweiz bereit, ein Kontingent von 12'000 tschechoslowakischen Flüchtlingen aufzunehmen. Innerhalb weniger Tage nach ihrer Ankunft in den Aufnahmezentren im Kanton St. Gallen wurden die Flüchtlinge auf die Kantone und Gemeinden verteilt.
Erholungsaufenthalte für tschechoslowakische Kinder
In den Tagen nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee, vom 24. August bis 6. September 1968, liess das SRK dem Tschechoslowakischen Roten Kreuz Blutprodukte und Medikamente im Wert von 200'000 Franken zukommen. Ausserdem wurde ein mobiles Team von freiwilligen Helferinnen und Helfern des SRK nach Österreich entsandt, um die dortige Rotkreuzgesellschaft bei der Bewältigung der Krise zu unterstützen. Für tschechoslowakische Kinder organisierte das SRK eine spezielle Aktion: Neben 500 Kindern, die einen Erholungsaufenthalt benötigten, wurden auch 50 kranke Kinder in der Schweiz aufgenommen. Die 500 erholungsbedürftigen Kinder wurden vor Ort von einem Schweizer Kinderarzt und einer Krankenschwester des SRK ausgewählt. Vom 4. Juni bis zum 27. August 1969 verbrachten sie Ferien bei einer Schweizer Gastfamilie. Die 50 kranken Kinder, von denen die meisten an Atemwegserkrankungen litten, wurden vom 22. August bis zum 16. Dezember 1969 in sechs verschiedenen Heimen im Berner Oberland und im Kanton Graubünden behandelt.