Hilfe für deutsche Flüchtlinge in der Nachkriegszeit

Im Rahmen seiner Hilfsaktionen in Deutschland richtete das SRK seine Aufmerksamkeit schon nach kurzer Zeit auf eine besonders gefährdete Bevölkerungsgruppe: auf die Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Nachdem die Siegermächte die Grenzen von Deutschland 1945 neu gezogen hatten, mussten diese ethnisch deutschen Familien aus den osteuropäischen Ländern fliehen. Millionen von Menschen sahen sich gezwungen, in das zerstörte, völlig verarmte und geteilte Deutschland überzusiedeln. Dort hatten sie grosse Mühe, sich eine Existenzgrundlage aufzubauen. Sie wurden mehrheitlich in Notunterkünften, notdürftig eingerichteten Behausungen oder rudimentären Lagern zusammengepfercht, in denen teilweise katastrophale Bedingungen herrschten. 

Hilfe für Flüchtlinge in Bayern

1949 erkannte das SRK das ganze Ausmass der Problematik dieser entwurzelten Menschen, von denen immer mehr nach Deutschland strömten. Mittlerweile lag ihre Zahl bei knapp 12 Millionen… Mit zwei Millionen Flüchtlingen war Bayern am stärksten von dieser Zuwanderungswelle betroffen. Deshalb beschloss das SRK, seine Hilfsaktion hauptsächlich auf dieses Bundesland auszurichten. Nachdem seine Vertreter mehrere Flüchtlingslager in Bayern besichtigt hatten, gab das SRK eine Sondernummer seiner Monatszeitschrift zu diesem Thema heraus, um die Leserinnen und Leser auf dieses weitgehend unbekannte Problem aufmerksam zu machen. Darin wurde das Lager in Augsburg beschrieben: 

«Das ärgste Flüchtlingslager ist jenes in einem Fabrikgebäude von Augsburg. In den einzelnen Räumen hausen 65 bis 70 Menschen dicht beieinander. Pritschengestell – mit zwei oder drei übereinanderstehenden Pritschen – steht an Pritschengestell. Jede Bewegung liegt vor dem Blick offen. Lärm, Staub, verbrauchte Luft, Gedränge und ein unglaubliches Durcheinander an mannigfaltigstem Hausrat und Bekleidungsstücken. 

Eine Frau wäscht Geschirr, und eine zweite keift mit einem Kind. Ein altes Weib bügelt Männerhosen, und halbnackte Männer liegen auf den Pritschen. In einer Ecke sitzen drei Knaben um eine Kiste und rechnen mit lauter Stimme, während um sie herum kleine Kinder auf dem Boden spielen. Ein Kind wimmert, und die abgezehrte Mutter versucht vergeblich, es zu beschwichtigen. ‹Dysenterie. Seit Stunden weint es.› […] 

Täglich flammt erbitterter Streit in diesem Räumen auf. Wegen Nichtigkeiten. Weil sie dieses Leben nun schon seit vier Jahren ertragen müssen. Weil die Nerven überreizt und das Gemüt dem Hasse zugänglich ist. Weil sie keine einzige Sekunde des Tages, keine einzige Sekunde der Nacht allein sind. Weil sie leiden. Psychisch ganz unvorstellbar leiden. Und weil das Ende ihrer Leiden nicht abzusehen ist.» (Das Schweizerische Rote Kreuz, Nr. 11/12 1949, S. 20/21)

Patenschaften für Flüchtlingskinder

Um den dringendsten Bedarf zu decken, führte das SRK Patenschaften für Flüchtlingskinder ein. Es wurden sechs Patenschaftspakete für ganz unterschiedliche Bedürfnisse angeboten. Eine Flüchtlingspatenschaft ermöglichte den Paten, ihr Patenkind durch eine monatliche Überweisung von zehn Franken während mindestens sechs Monaten mit dringend benötigten Gütern zu versorgen, unter anderem mit Kleidern und Schuhen. Vor Ort wurden die Patenschaftspakete von Auslandmitarbeitenden verteilt, die jeden Einzelfall sorgfältig prüften.

Ausserdem trugen Bettenpatenschaften dazu bei, die höchst prekären Wohnverhältnisse zu verbessern, unter denen die meisten Flüchtlinge leben mussten. Dank den Spenden der Paten konnte das SRK Betten für Flüchtlingskinder beschaffen, die zuvor auf dem Boden schlafen mussten. Mit Kollektivpatenschaften konnten alle Kinder, die zusammen in einem Lager lebten, mit den benötigten Gütern versorgt werden.

Eine neue Aufgabe für das Rote Kreuz

Ab 1949 konzentrierten sich die Auslandaktivitäten des SRK hauptsächlich auf die Flüchtlingshilfe. Gleichzeitig befasste sich auch die internationale Gemeinschaft mit der brennenden Flüchtlingsfrage. Während noch immer Tausende entwurzelter Menschen auf der Flucht durch Europa irrten, wurden Institutionen und Rechtsinstrumente geschaffen, um die Problematik weltweit anzugehen und den Schutz der Flüchtlinge im Völkerrecht zu verankern: 1950 wurde das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge eingerichtet und im Folgejahr das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge verabschiedet. 1951 organisierte die Liga der Rotkreuzgesellschaften in Hannover eine internationale Konferenz zur Problematik der Flüchtlinge in Westdeutschland und Österreich. Gestützt auf die Resolutionen dieser Konferenz führte das SRK die medizinische Betreuung von Flüchtlingskindern in Schweizer Spitälern bis 1956 weiter. 

«Die Fortsetzung dieser Aktion wurde auch deshalb befürwortet, weil sie nicht nur eine materielle, sondern auch eine moralische, völkerverbindende Hilfe darstellt, deren Bedeutung hoch einzuschätzen ist.» (Jahresbericht 1954 des Schweizerischen Roten Kreuzes, S. 44)

Zurück zum Seitenanfang