Erholung für Kinder aus Deutschland und Osteuropa
Die Befreiung Frankreichs und die Kapitulation der deutschen Wehrmacht wirkten sich direkt auf die Arbeit der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK-Kinderhilfe) aus. Der Schwerpunkt ihrer humanitären Arbeit verlagerte sich von Frankreich nach Mitteleuropa (Deutschland, Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei). Im Rahmen der Schweizer Spende und mit Unterstützung des Bundes führte das SRK seine Hilfsaktionen für Kinder, die unter den Folgen des Krieges litten, weiter. Dabei arbeitete es mit zahlreichen anderen nationalen und internationalen Hilfswerken zusammen.
Die SRK-Kinderhilfe wendet ihren Blick nach Osten
Ende 1945 liefen die Hilfsmassnahmen für Österreich an. Kinder «mit vor Hunger geweiteten Augen» aus Innsbruck, Salzburg, Graz, Linz und Wien trafen zu Tausenden in der Schweiz ein. Innerhalb von zwei Monaten reisten 3801 Kinder ein. Alfred Siegfried, Vizepräsident der SRK-Kinderhilfe, fuhr in Begleitung der Krankenschwester Elsbeth Kasser persönlich nach Wien, um dort die Verteilung von Hilfsgütern zu organisieren. Am Ende des darauffolgenden Jahres verteilte das Schweizer Hilfswerk in 132 Verpflegungszentren für Kinder täglich 24'000 Lebensmittelportionen. Das SRK war die erste ausländische Hilfsorganisation, die nach Kriegsende in Österreich tätig wurde.
In der Folge erbrachte das SRK auch Hilfeleistungen für Kinder in der Tschechoslowakei und in Ungarn. Vor allem in Ungarn war die Lage dramatisch:
«Sie wissen es alle, die je dort waren – Delegierte, Mitarbeiterinnen und der Zentralsekretär: Nie in diesen ganzen Jahren, nie ausser in Griechenland, sah man ein Kinderelend wie das von Budapest.» (Jahresbericht 1946 des Schweizerischen Roten Kreuzes, S. 149)
Im Herbst 1945 wurde eine Delegation des SRK auf eine Erkundungsmission nach Süddeutschland entsandt. Kurz danach beschloss das Exekutivkomitee der Kinderhilfe, auch deutschen Kindern zu Hilfe zu kommen. Angesichts des erschütternden Elends wurden unverzüglich Nothilfegüter (Medikamente, Kleider und Nahrungsmittel) nach Deutschland gesandt. Zudem wurde ein Patenschaftssystem aufgebaut, und man bereitete Aufenthalte in der Schweiz für erholungsbedürftige Kinder vor.
Betreuung von Kindern aus Deutschland
Am 17. April 1946 trafen die ersten 497 deutschen Kinder in der Schweiz ein. Wie Tausende anderer Kinder aus verschiedenen europäischen Ländern waren sie nach medizinischen Kriterien ausgewählt worden. Nach ihrer Ankunft in der Schweiz wurden sie bei Gastfamilien untergebracht oder in spezialisierten Einrichtungen hospitalisiert. Die Kinderzüge kamen hauptsächlich aus Grossstädten in den vier Besatzungszonen (Tübingen, Koblenz, Hamburg, Dortmund, Köln, Kiel, Düsseldorf, Hannover, Stuttgart, Mannheim, Kassel, München, Dresden, Berlin usw.). Sie trafen in rascher Folge in der Schweiz ein.
Die warme Mahlzeit, welche die Kinder nach ihrer Ankunft in Basel erhielten, war für viele von ihnen die erste seit Monaten. Anschliessend wurden die Kinder geduscht, desinfiziert und nach Schaffhausen gebracht. Dort verbrachten sie eine Woche in einem Quarantänelager. So konnten allfällige ansteckende Krankheiten frühzeitig erkannt werden. Zudem gab dies dem SRK Zeit, die Kinder mit Kleidern und Schuhen auszustatten. Nach dem Aufenthalt im Quarantänelager wurden die Schützlinge aus Deutschland auf die Deutschschweizer Kantone verteilt.
Luftkuren zur Behandlung von Lungenkrankheiten
Die meisten Kinder konnten einen dreimonatigen Erholungsaufenthalt bei einer Schweizer Gastfamilie verbringen. 2310 prätuberkulöse Kinder wurden in spezialisierten medizinischen Einrichtungen behandelt, die grösstenteils vom Bund finanziert wurden. Nach vier bis sechs Monaten in einem Erholungsheim oder Sanatorium war ihre Gesundheit meist wiederhergestellt.
Zur Deckung der Kosten für die medizinische Behandlung und die Unterbringung der kleinen Patientinnen und Patienten führte das SRK Patenschaften für Schweizer Kinderheime ein. Die kranken Kinder wurden hauptsächlich in Erholungsheimen in Miralago (Tessin), Orselina (Tessin), Pontresina (Graubünden), Adelboden (Bern), Gstaad (Bern), Engelberg (Obwalden), Sachseln (Obwalden) und Epalinges (Waadt) betreut. Von den insgesamt 181'545 Kindern aus europäischen Ländern, die dank der Kinderhilfe bis 1956 einen Aufenthalt in der Schweiz verbringen konnten, kamen über 44'000 aus Deutschland.
Von den kriegsversehrten Kindern zu den Kindern von Ostflüchtlingen
Nach siebenjähriger Tätigkeit beendete die SRK-Kinderhilfe am 1. Juli 1949 offiziell die unzähligen Aufgaben, die sie während des Krieges wahrgenommen hatte. Ihre Hilfsprogramme wurden drastisch reduziert, und zahlreiche Auslanddelegationen wurden geschlossen. Die Unterbringung von Kindern in der Schweiz wurde weitergeführt, allerdings mit einem anderen Schwerpunkt.
Nun richteten sich die Erholungsaufenthalte des SRK hauptsächlich an Kinder von deutschen Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs. Seit ihrer Flucht lebten diese Menschen in prekären Verhältnissen in Deutschland oder Österreich. Die nachfolgende Tabelle zeigt, aus welchen Ländern die Kinder stammten, die in den ersten Nachkriegsjahren zur Erholung in der Schweiz aufgenommen wurden: Während die Zahl der französischen Kinder ab 1945 drastisch zurückging, nahm die Zahl der Kinder aus den besiegten Ländern zu.
| Deutschland | Österreich | Ungarn | Frankreich |
1945 | – | 3801 | – | 25’189 |
1946 | 4045 | 12’389 | 971 | 6390 |
1947 | 15’654 | 7435 | 2309 | 1037 |
1948 | 7741 | 6753 | 2795 | 769 |
1949 | 1613 | 2413 | – | 92 |
Total | 29’053 | 32’791 | 6075 | 33’477 |