Die Flüchtlingskinder aus Montbéliard und Belfort

Die Landung in der Normandie am 6. Juni 1944, gefolgt von der Landung in der Provence am 15. August, ermöglichte es den alliierten Streitkräften, auf französisches Territorium vorzudringen und eine grosse Bodenoffensive gegen die deutschen Besatzer zu starten. Die Vereinigung der Armeen am 12. September oberhalb von Dijon ermöglichte es den Alliierten, den Weg nach Osten zu öffnen. Das schnelle Voranschreiten der Rückeroberungsoperationen beschleunigte die Kämpfe in den Grenzregionen Doubs und Belfort. Die überraschte Bevölkerung verbarrikadierte sich oder flüchtete.

 

Der Krieg vor den Toren der Schweiz  

Angesichts des rasanten Vormarsches der Armee von General Lattre de Tassigny beschränken sich die Truppen des Deutschen Reiches auf die Stadt Belfort. Beschlagnahmungen, Plünderungen, Razzien und Hinrichtungen versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Wie kann man die Jüngsten schützen? Das Rote Kreuz des der Sektion Belfort und das Schweizerische Rote Kreuz arbeiten zusammen, um die Aufnahme von Kindern aus der betroffenen Region in der Schweiz zu ermöglichen. Die Kommandantur von Belfort stimmt dieser Evakuierungsmassnahme unter der Bedingung zu, dass sie nur für Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren und katholischen Glaubens gilt.  

Die Eidgenossenschaft ihrerseits gewährt den jungen Kriegsflüchtlingen eine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung. Ab dem 8. September übernimmt das Schweizerische Rote Kreuz - Kinderhilfe (SRK-Kinderhilfe) die ersten Konvois und verteilt die Kinder auf Gastfamilien.

 

13'688 Kinder finden Zuflucht in der Schweiz 

Doch nur wenige Tage später verschlechtert sich die Gesundheits- und Sicherheitslage in den Gebieten Montbéliard und Belfort dramatisch. Angesichts dieser humanitären Notlage wird die SRK-Kinderhilfe darüber informiert, dass mindestens zehnmal so viele Kinder aufgenommen werden müssen... Nach Diskussionen auf höchster Ebene wird die Zahl der Kinder, die in der Schweiz aufgenommen werden können, auf 15'000 erhöht.   

Die Rettungsaktionen laufen auf Hochtouren: Vom 16. September bis zum 17. November überqueren rund 13'688 Kriegsflüchtlingskinder die Schweizer Grenze bei Boncourt. Sie werden von der SRK-Kinderhilfe, der Armee und der lokalen Bevölkerung betreut und mit dem Zug in das Aufnahmezentrum in Basel gebracht. Nach der ärztlichen Untersuchung und der üblichen Desinfektion werden sie einer der 40'000 Schweizer Familien übergeben, die der SRK-Kinderhilfe eine Unterkunft angeboten haben. Sobald die Kriegsgefahr gebannt war, wurden die Kinder ab dem 1. Februar 1945 in mehreren Transporten in ihre Familien zurückgebracht.

 

Auszug aus dem Bericht von Elisabeth Kasser, Krankenschwester der SRK-Kinderhilfe

Am 29. September, um die Mittagszeit, wird Delle bombardiert, und es erreicht mich die Meldung, dass in Delle 60 Kinder auf mich warten. Ich eile an die Grenze. [...] Ich finde die Kinder in einem Keller, wo sie sich zusammengefunden haben. Ueber Schutt- und Trümmerhaufen müssen wir den kürzesten Weg zurück suchen. Auf den Armen trage ich ein kleines Mädchen, das bei einem früheren Bombardement beide Eltern verloren hat - ein Häufchen Elend. [...]   

Unter unheimlichem Fliegergedröhn geht es der Schweizer Grenze zu; noch haben wir diese nicht erreicht, als die Fluzzeugeschon über uns kreisen. Ob sie das grosse, rote Kreuz wohl nicht erkennen? Nein, denn sie lassen direkt über uns ihre Bombenlast fallen. Das Angstgeschrei der Kinder ist entsetzlich; sie alle wissen, was Bomben bedeuten und werfen sich auf dem Feld. Da eilen uns von der Grenze aus zwei beherzte Mädchen der Ortswehr Boncourt zu Hilfe, und mitten im Flugzeugdonner und Kindergeschrei höre ich eine klare Kinderstimme beten : "Sainte Marie, mère de Dieu, priez pour nous..." Dieser Hilferuf zum Himmel wirkt auf die Kinder wie ein Wunder, die Angstschreie verstummen und sie beten laut mit. Zum grossen Glück ist niemand von uns verletzt worden und wir betreten tief aufatmend den Schweizer Boden.

Jahresbericht des Schweizerischen Roten Kreuzes für das Jahr 1944.

 

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