Die Tragödie der Kinder von La Hille

1942 begannen in Frankreich die Massenverhaftungen und Deportationen. Viele Juden aus Deutschland, Österreich und Nordeuropa waren in die freie Zone geflüchtet. Doch auch dort konnten sie sich nicht mehr sicher fühlen. In den «Auffanglagern» in Gurs, Récébédou und Rivesaltes im Südwesten des Landes wurden Juden und Ausländer versammelt, gegen die sich die vom Vichy-Regime erlassenen Gesetze richteten. Diese Lager wurden zum Eckpfeiler der Deportationen. 

In den Heimen und Jugendkolonien, welche die Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK-Kinderhilfe) in Südfrankreich eingerichtet hatte, wurden auch jüdische Kinder betreut. Um diese vor der Deportation in die Vernichtungslager zu bewahren, beschlossen ihre Betreuerinnen, ihnen zur Flucht in die Schweiz zu verhelfen. Diese heroischen Taten führten sie ohne Wissen ihrer Vorgesetzten durch. Als ihre Fluchthilfe aufflog, wurden Germaine Hommel, Renée Farny und Rösli Näf gerügt und danach von den leitenden Organen des SRK entlassen, mit der Begründung, sie hätten gegen das Prinzip der Neutralität verstossen.

Die Razzia vom 26. August 1942

Seit dem Frühjahr 1941 betrieb die SRK-Kinderhilfe im Schloss La Hille am Fuss der Pyrenäen ein Heim, in dem über 80 jüdische Waisenkinder betreut wurden. Die Heimkinder hatten das seit 20 Jahren unbewohnte Schloss mit Hilfe von spanischen Arbeitern instandgesetzt. Geleitet wurde das Waisenheim von Rösli Näf, einer 30-jährigen Krankenschwester aus Glarus. Sie sorgte für ein harmonisches Zusammenleben dieser Gemeinschaft.

Doch am frühen Morgen des 26. August 1942 wurde die Ruhe im Heim jäh durchbrochen: 45 Jugendliche im Alter von über 16 Jahren und drei jüdische Angestellte wurden von der französischen Polizei mit Gewalt abgeführt und ins Internierungslager Le Vernet gebracht. Dieses Lager war die letzte Etappe vor dem Gefangenenlager Drancy und den deutschen Vernichtungslagern. Weder das Rotkreuzzeichen noch die energische Intervention von Rösli Näf bewahrten die jüdischen Jugendlichen und Angestellten vor der Verhaftung. 

Am nächsten Tag setzte Rösli Näf alles daran, ihre Schützlinge wieder freizubekommen. Sie fuhr ins Lager Le Vernet, wo sie die Jugendlichen wiederfand. Nachdem Maurice Dubois, der Leiter der Schweizer Delegation in Toulouse, informiert worden war, reiste er persönlich nach Vichy, um die französischen Behörden zur sofortigen Freilassung der Jugendlichen zu veranlassen. Seine Intervention hatte Erfolg: Die junge Schweizer Krankenschwester konnte schliesslich mit «ihren» Kindern nach La Hille zurückkehren.

Die Reaktion des SRK

Als die Verantwortlichen des SRK vom Vorfall erfuhren, verzichteten sie darauf, bei der französischen Regierung offiziell Protest einzulegen. Priorität hatte für sie, nicht vom Grundsatz der Neutralität abzuweichen, der für alle humanitären Aktivitäten im Ausland massgebend war. Ist dies als übertriebene Vorsicht und Zurückhaltung zu werten? Das Abwägen von Interessen und die Berücksichtigung des Willens der Schweizer Behörden waren für die Politik des SRK allerdings von zentraler Bedeutung: Seit der Revision seiner Statuten im Jahr 1942 war das SRK zwar formell nicht mehr der Armee unterstellt, doch ohne Erlaubnis des Bundesrates konnte es im Ausland keine Aktivitäten durchführen. 

Damit entstand eine Kluft zwischen den politischen Auffassungen, die am Sitz des SRK in Bern vertreten wurden, und der düsteren Realität, mit der die humanitären Helfer vor Ort konfrontiert waren. Die Ermahnung des Exekutivkomitees an die in Frankreich tätigen Mitarbeiter bringt die Unvereinbarkeit der beiden Positionen gut zum Ausdruck: 

«Die Gesetze und Dekrete der französischen Regierung sind genauestens zu befolgen. Sie haben nicht zu beurteilen, ob diese Ihren persönlichen Überzeugungen widersprechen. […] Die französische Regierung hat uns ihr Vertrauen geschenkt, damit wir unseren Hilfseinsatz für Kinder durchführen können. Diese Arbeit können wir nur leisten, wenn wir dieses Vertrauen nicht untergraben und es nicht durch eine unüberlegte Aktion aufs Spiel setzen. Sollten sich die Umstände in Zukunft so entwickeln, dass Sie Ihre Aufgaben Ihres Erachtens nicht mehr wahrnehmen können, verlangen wir von Ihnen, dass Sie um Ihre Entlassung ersuchen, statt dass Sie Ihre Tätigkeit weiterführen und dem Ansehen des Schweizerischen Roten Kreuzes und unseres Landes schaden.» (Message du Comité exécutif de la Croix-Rouge suisse, Secours aux enfants, à ses collaborateurs en France pour le Secours aux Enfants victimes de la guerre / Botschaft des Arbeitsausschusses des Schweizerischen Roten Kreuzes, Kinderhilfe, an seine Mitarbeitenden in Frankreich für die Hilfe kriegsgeschädigter Kinder, Original französisch / 8.2.1943, ACRS, SAE, XXI, C-02,6)

Unterstützung der Flucht in die Schweiz

Im November 1942 wurde die Lage kritisch: Nun war auch Südfrankreich von der deutschen Armee besetzt, womit Kinderzüge in die Schweiz nicht mehr möglich waren. Dies setzte auch allen Spekulationen über ein allfälliges Projekt ein Ende, jüdische Kinder in der Schweiz aufzunehmen. In den Heimen der SRK-Kinderhilfe, in denen 168 jüdische Kinder und Jugendliche Zuflucht gefunden hatten, machte sich ein Gefühl der Unsicherheit breit. Ohne ihre Vorgesetzten zu informieren, beschloss Rösli Näf im Schloss La Hille, für die Jugendlichen ab 16 Jahren die Flucht in die Schweiz zu organisieren. Denn für sie war die Gefahr am grössten. Die ersten Gruppen von Jugendlichen wurden kurz vor Weihnachten auf den Weg geschickt. Mit Hilfe von Germaine Hommel, der Leiterin des Heims in St-Cergues (in der Nähe von Genf), und ihrer Assistentin Renée Farny gelangten sie heimlich über die Grenze in die Schweiz. 

In der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 1943 wurden aber vier Jugendliche unweit der Schweizer Grenze von der deutschen Polizei aufgegriffen. Drei von ihnen wurden schliesslich in deutsche Vernichtungslager deportiert. Damit war die ganze Operation zum Scheitern verurteilt. Nun liess es sich nicht mehr verhindern, dass die Fluchthilfe bekannt wurde. Die drei involvierten Mitarbeiterinnen wurden vom Rotkreuz-Chefarzt gerügt und entlassen. Doch einige Monate später leisteten auch die beiden neuen Mitarbeiterinnen der SRK-Kinderhilfe in La Hille Fluchthilfe: Trotz der Risiken, die damit verbunden waren, verhalfen die Waadtländerin Anne-Marie Piguet und die Zürcherin Gret Tobler von September 1943 bis Mai 1944 weiteren jüdischen Kindern zur Flucht in die Schweiz. 

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