Die Ärztemissionen des SRK an der Ostfront

Von Oktober 1941 bis März 1943 beteiligten sich Schweizer Ärzte und Krankenschwestern an Ärztemissionen an der deutsch-russischen Front. Diese vom Bundesrat genehmigten Missionen, die unter dem Patronat des Schweizerischen Roten Kreuzes standen, lösten harte Kontroversen aus. Denn sie stellten den Grundsatz der Neutralität in Frage und standen im Widerspruch zu den wichtigsten Grundwerten des Roten Kreuzes. Kritisiert wurde namentlich, damit werde die humanitäre Hilfe instrumentalisiert.

Missachtung der humanitären Grundsätze des Roten Kreuzes

Der Entscheid, medizinische Teams aus der Schweiz an die deutsch-russische Front zu entsenden, lässt sich nicht mit rein humanitären Motiven begründen. Vielmehr ist darin die Willfährigkeit gewisser Kreise in der Schweiz gegenüber dem Dritten Reich und dessen antibolschewistischer Politik erkennbar. Allgemeiner erfolgten die Einsätze an der Ostfront im Rahmen eines politisch-diplomatischen Vorstosses. Der Entscheid ging von zwei Männern aus, die als deutschfreundlich galten: Minister Hans Frölicher, Schweizer Gesandter in Berlin, und Oberstdivisionär Eugen Bircher, Aargauer Arzt und Politiker. Bircher gehörte der Leitung des SRK an. 

Rein rechtlich betrachtet waren weder die Schweizer Armee noch das SRK – das gemäss den Statuten in Kriegszeiten eine Art Unterabteilung der Armee bildete – befugt, die Leitung solcher Auslandsmissionen zu übernehmen. Deshalb wurde mit einem rechtlichen Kunstgriff ein «Komitee für Hilfsaktionen unter dem Patronat des Schweizerischen Roten Kreuzes» gebildet. Das medizinische Personal aus der Schweiz setzte sich aus Freiwilligen zusammen. Da die Missionen unter der Schirmherrschaft des SRK standen, gingen die Schweizer Ärzte und Krankenschwestern selbstverständlich davon aus, dass sie gemäss den Rotkreuzgrundsätzen Verwundete und Kranke ohne Unterscheidung nach Staatsangehörigkeit versorgen würden. Doch durch eine vertrauliche Vereinbarung, die Oberstdivisionär Johannes von Muralt (Präsident des SRK und des Komitees für Hilfsaktionen) mit dem Oberkommando der deutschen Wehrmacht abgeschlossen hatte, wurden die Freiwilligen ohne ihr Wissen der Befehlsgewalt der Wehrmacht unterstellt. Mit anderen Worten stellten sich die Schweizer Ärzte und Krankenschwestern, ohne sich dessen bewusst zu sein, in den Dienst des Dritten Reichs. 

Unter dem Mantel des Schweigens

Die erste Ärztemission reiste am 15. Oktober 1941 für einen dreimonatigen Einsatz nach Russland. Unter der Leitung von Eugen Bircher begaben sich rund 60 Ärzte und Krankenschwestern zusammen mit 15 Hilfskräften in die russische Stadt Smolensk. Bis März 1943 folgten drei weitere Missionen in den Städten Stalino (dem heutigen Donezk), Saporischschja, Juchnow, Wjasma und Roslawl. 

An ihren Einsatzorten wurde von den Mitgliedern der Ärztemissionen verlangt, ausschliesslich deutschen Staatsangehörigen Hilfe zu leisten. Jeder Ungehorsam und schon das geringste Anzeichen von Widerstand wurden sogleich unterdrückt. Die Schweizer Ärzte und Krankenschwestern hatten gehofft, auf neutraler Basis humanitäre Hilfe leisten zu können. Doch vor Ort sahen sie sich in den Militärapparat der Nazis eingespannt und mussten unerträgliche Szenen miterleben. Einige mussten machtlos zusehen, wie Gräueltaten begangen wurden, die sich vor allem gegen die russische und jüdische Zivilbevölkerung richteten. Andere besuchten das Warschauer Ghetto. Einige wagten es sogar, Fotos aufzunehmen. Zudem herrschten kaum vorstellbare Arbeitsbedingungen: Im bitterkalten Winter 1941–1942 sank das Thermometer zeitweise auf –40o C. Die Verwundeten trafen in erbärmlichem Zustand in den Lazaretten ein, halb tot vor Hunger und Kälte. 

Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz war es den Missionsteilnehmern untersagt, von ihren Erlebnissen zu berichten. Für einige war dieses erzwungene Schweigen unerträglich: Der Zürcher Chirurg Rudolf Bucher, der an der ersten Ärztemission teilgenommen hatte, berichtete im Rahmen von öffentlichen Vorträgen über seine Erfahrungen an der Ostfront. Daraufhin wurde er von den Militärbehörden drangsaliert, weil er die Geheimhaltungspflicht verletzt hatte. Vorerst wurde er damit zum Schweigen gebracht. Erst 1967 veröffentlichte er seine Erinnerungen «Zwischen Verrat und Menschlichkeit. Erlebnisse eines Schweizer Arztes an der deutsch-russischen Front, 1941–1942».

Zurück zum Seitenanfang