Der Kampf gegen die Spanische Grippe

Die Spanische Grippe am Ende des Ersten Weltkrieges ist bis heute die verlustreichste Pandemie der Menschheitsgeschichte. Mit, je nach Schätzung, 20-50 Millionen Toten forderte sie mindestens dreimal so viele Menschenleben, wie der Konflikt selbst. Bis heute ist nicht ganz klar, warum die Krankheit, verglichen mit früheren Grippeausbrüchen, derart heftig wütete.


Tödlicher als der Krieg

Die Pandemie begann im Frühling 1918 und verlief danach, je nach Gegend, in zwei oder drei Wellen. Am schlimmsten war die Zweite im Herbst 1918, welche z. B. in Paris zwischen 6. Oktober und 9. November über 200 Todesopfer pro Tag forderte. In vielen Gegenden der Welt flammte die Krankheit im Frühjahr 1919 nochmals auf.

Ungewöhnlich war, dass die Sterblichkeit bei jungen Erwachsenen zwischen 20 und 40 Jahren am höchsten war. Und unerwartet waren auch der ausgesprochen aggressive Charakter der Krankheit und ihr rascher Verlauf. Erste Impfversuche wurden zwar durchgeführt, man war aber noch weit davon entfernt einen effizienten Impfstoff herstellen zu können.
Todesursache war nicht das Virus selber, sondern in den allermeisten Fällen eine bakterielle Lungenentzündung. Auch hier fehlte ein Gegenmittel, denn ein wirksames Antibiotikum zu deren Bekämpfung stand noch nicht zur Verfügung.


Die Pandemie erreicht die Schweiz

Wegen umfangreichen Truppentransporten, verbunden mit grossen Fluchtbewegungen, konnte sich die Seuche rasch ausbreiten. In die Schweiz eingeschleppt wurde sie vermutlich in Austauschzügen mit ausländischen Kriegsverwundeten und Internierten, die das Land durchquerten.

Obwohl nicht in Kampfhandlungen verwickelt, waren die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auch in der Schweiz deutlich spürbar. Die Behörden hatten, wohl in Erwartung einer nur kurzen Kriegsdauer, erst spät und teilweise ungeeignete Massnahmen ergriffen. Spätestens ab 1916 kam es zu Versorgungsengpässen bei Kohle und Nahrungsmitteln. Verschärft wurde die Misere durch klimatisch bedingte Ernteausfälle. Ab dem Jahresende 1917 litt ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung an Hunger und Unterernährung. Als die Spanische Grippe im folgenden Frühling die Schweiz erreichte, traf sie auf geschwächte Menschen, die besonders anfällig waren.


Kampf an allen Fronten

Bereits die erste Erkrankungswelle ab Frühsommer 1918 brachte zahlreiche grippebedingte Todesfälle. Betroffen waren besonders Soldaten der Grenzbesetzungstruppen und Rekrutenschulen. Die Rückkehr der Krankheit im Herbst war dann aber schrecklich und führte zu rekordhohen Todeszahlen, chaotischen Zuständen und Panikreaktionen. Allein in der Stadt Basel starben von Mitte Oktober bis Mitte November über 400 Menschen. Auch zwanzig Jahre später war die Erinnerung an diese schlimme Zeit noch wach:

„Es waren Tage voll Erregung. Von Kraft strotzende Soldaten wurden oft binnen wenigen Tagen dahingerafft. Eine begreifliche Unruhe bemächtigte sich der Bevölkerung, als aus Militärspitälern täglich mehrere Leichen unter gedämpftem Trommelklang oder unter den Klängen des Chopinschen Trauermarsches, mit militärischem Ehrengeleite ihrer Heimat zugeführt wurden. Die Seuche erfasste auch die Zivilbevölkerung und unerbittlich holte sich auch hier der Tod seine Opfer.“ Jubiläumsbericht Samariterbund 1938

 

Um die weitere Ausbreitung der Pandemie zu verhindern, wurden u. a. vielerorts Versammlungsverbote erlassen und die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung eingeschränkt. Das Militär machte von seinem Recht Gebrauch, dass ihm die anerkannten Krankenpflegeschulen ihr Personal zu Verfügung stellen mussten. Es berief zahlreiche zusätzliche Krankenschwestern ein, welche dann im zivilen Bereich fehlten. Ausgebildetes Personal war kaum mehr vorhanden. „Selber krank“, hiess es ausserdem oft, wenn jemand neues aufgeboten wurde. Die behandelnden Ärzte betonten in dieser Situation, dass es ihnen gleichgültig sei, wer helfen komme, „wenn es überhaupt nur ein Mensch sei“. Auch Wäsche, Betten und sonstiges für die Pflege benötigtes Material waren Mangelware.

Das Schweizerische Rote Kreuz nahm sich dieser grossen Not an. Es lieferte gewaltige Mengen an Wäsche und zahlreiche Krankenbetten an militärische und zivile Notspitäler, welche überall in der Schweiz z. B. in Schulhäusern und Kindergärten errichtet wurden. Und es mobilisierte v.a. freiwilliges Pflegepersonal, welches dort zum Einsatz kommen konnte. Besonders gefragt waren Mitglieder der Rotkreuzsektionen und der Hilfskolonnen, sowie Samariterinnen und Samariter, welche einen Kurs in häuslicher Krankenpflege belegt hatten. Um mehr davon zu erhalten, wurden in den Sektionen zusätzliche Kurse durchgeführt.


Der Zweigverein Biel-Seeland des SRK im Einsatz

Im März 1918 begleiteten Mitglieder der lokalen Rotkreuzkolonne einen Austauschzug mit tuberkulösen Italienern von Feldkirch nach Como. Als dann die Grippe ausbrach, wurde auch hier die Abgabe von sauberer Wäsche an Schweizer Soldaten, welche schon seit Kriegsbeginn lief, massiv ausgebaut. Die Spitalbetten des Zweigvereins wurden dem Militärspital Sonceboz zu Verfügung gestellt und im Juli 1918 richteten 14 Mann der örtlichen Rotkreuzkolonne ein Militärnotspital ein. Der Kolonnenführer und ein Mann blieben zur Pflege dauernd vor Ort im Einsatz, bis sie selber krank wurden. Andere Kolonnenmitglieder waren für die Transporte der kranken Soldaten zuständig. Auch von ihnen erkrankten vier. Als die Krankheit in Biel Ende Oktober zum zweiten Mal aufflammte, wurden vier Mitglieder zum Einrichten eines zivilen Notspitals einberufen. Ein Kolonnenmitglied blieb dauernd dort im Einsatz, zwei waren für den Transport der Kranken ins Spital zuständig und weitere übernahmen Nachtwachen. Anfang 1919 waren immer noch mehrere Mitglieder im «Grippe-Zivilspital» tätig oder beteiligten sich an insgesamt fünf Verwundetentransporten.

Die Tätigkeit des Zweigvereins Biel-Seeland wurde von der Spanischen Grippe massgeblich beeinflusst und seine Mitglieder waren stark in den Kampf gegen die Seuche eingebunden. Es gab aber keine Todesfälle. Andere Sektionen hatten weniger Glück. Am schlimmsten traf es den Zweigverein Baselland, der vier Tote zu beklagen hatte.


Der Berner Lindenhof und die Spanische Grippe

Die Stiftung Rotkreuzanstalten für Krankenpflege, wie das heutige Lindenhofspital damals hiess, war gleich in mehrerer Hinsicht von der Pandemie betroffen. Das Spital musste total 173 Krankenschwestern an die Armee abgeben. Ausserdem erkrankte ein Grossteil der Angestellten und zwei Schülerinnen starben sogar. Der Spital- und Schulbetrieb wurde dadurch erheblich gestört und letzterer zeitweise quasi eingestellt. Und schliesslich mussten wegen der akuten Not zahlreiche Grippefälle betreut werden. Sie wurden im sogenannten «alten Haus» gepflegt, welches zur Grippestation umfunktioniert worden war. Dank dieser strikten räumlichen Trennung und strenger Hygienedisziplin des Personals konnten die anderen Patienten geschützt werden.


Die Rekonvaleszentenstationen für Armeeangehörige

Wer die Krankheit überlebt hatte, war zwar fortan immun dagegen, meist aber noch einige Zeit stark geschwächt. Genesene Soldaten konnten darum nicht einfach so zu ihrer Truppe zurückgeschickt werden, obwohl ihr Spitalbett dringend für neuerkrankte gebraucht wurde. Zur Lösung dieses Problems richtete das Rote Kreuz im Berner Oberland Rekonvaleszentenstationen ein. Insgesamt 31 Hotels aus der Tourismusblütezeit der Belle Epoque in Adelboden, Beatenberg, Merligen, Sigriswil, Spiez und Wilderswil wurden dafür umgenutzt. Ein Teil der Kosten wurde durch eine Spende von einer halben Million Franken des Amerikanischen Roten Kreuzes beglichen.


Bilanz der Seuche

Was damals geleistet wurde, zeigt eindrücklich der Jubiläumsbericht des Samariterbundes von 1938:

„Worte sind zu schwach, um auszudrücken, was damals im Dienste leidender Mitmenschen vollbracht wurde. Es gab Pflegerinnen, die tagelang nie aus ihren Kleidern kamen, die Tag und Nacht, selten von dem Krankenbette weichend, ihrer schweren Pflicht oblagen, bis sie entweder selbst zusammenbrachen oder bis sie zu einem andern Schwerkranken gerufen wurden. In dieser Aufopferung für andere liegt auch ein Heldentum.“

 

Und viele bezahlten diesen Heldenmut mit Ihrem Leben. Fachleute gehen heute davon aus, dass rund zwei Millionen Schweizerinnen und Schweizer an der Spanischen Grippe erkrankten, was in etwa der Hälfte der damaligen Bevölkerung entspricht. Es gab fast 25'000 Tote (bei knapp 750’000 gemeldeten Krankheitsfällen). Bis heute wurden in der Schweiz in keinem anderen Jahr mehr Todesfälle registriert, als im Grippejahr 1918.

40 bis 80 Prozent der Schweizer Armeeangehörigen, die an der Grenze im Jura Dienst leisteten, erkrankten. Insgesamt fielen der Grippepandemie 1‘805 Soldaten zum Opfer. Allein in der Rekrutenschule in Colombier starben 483 junge Männer.


69 Rotkreuzschwestern starben
 

Von den 742 vom Militär aufgebotenen Pflegenden starben 69 an den Folgen der Grippe, was einer Mortalität von knapp 10 Prozent entspricht. Hinzu kamen zahlreiche Todesfälle unter dem Pflegepersonal und bei Freiwilligen in Zivilspitälern und bei Privaten. Allein die Totentafel der Samariter zählt 26 Namen.

Das Schweizerische Rote Kreuz ging letztendlich gerade wegen seiner Hilfseinsätze im Kampf gegen die Spanische Grippe gestärkt aus dem Ersten Weltkrieg hervor. Der Heldenmut und die Opferbereitschaft von Krankenschwestern, Samariterinnen und Samaritern und von unzähligen weiteren Rotkreuzfreiwilligen wurden geschätzt und bewundert und machten das Schweizerische Rote Kreuz im eigenen Land bekannt.

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