Die gefilmte Durchreise der französischen Evakuierten im Bahnhof Basel

Am 28. Juni 1921 wurde der Stadt Basel die silberne Anerkennungsmedaille des französischen Staates verliehen. Mit dieser Auszeichnung würdigte Frankreich die ausserordentlichen Verdienste der Grenzstadt, die sich im Ersten Weltkrieg bei der Durchreise französischer Flüchtlinge durch die Schweiz besonders grosszügig gezeigt hatte. Zwischen 1914 und 1918 durchquerte eine halbe Million Frauen, Kinder und ältere Menschen aus zehn von Deutschland besetzten französischen Departementen die Schweiz, um über Evian und Annemasse nach Südfrankreich zu gelangen. Ein bisher unveröffentlichtes historisches Filmdokument zeigt die Arbeit der Krankenschwestern des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) und ruft diese kaum bekannte Episode in Erinnerung…


Filme als Waffe im Ersten Weltkrieg


Im Ersten Weltkrieg bot sich ein Experimentierfeld für das noch neue Medium Film. Die Armeen der kriegführenden Staaten bauten eigene Filmabteilungen auf. Die Generalstäbe erkannten, dass sich bewegte Bilder nutzen lassen, um die Massen zu mobilisieren, und führten ihre gefilmten Kriegsnachrichten in Kinosälen und Truppenunterkünften vor. Es ging nicht nur darum, die Moral der Truppen zu stärken, sondern auch die Zustimmung der Bevölkerung zu den Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten.

Auch in der Schweiz gelangten die Kriegsnachrichten in die Lichtspielhäuser: In den Kinosälen im ganzen Land wurden Wochenschauen gezeigt. In jener Zeit unterstanden die Kinos in der Deutschschweiz der Kontrolle der Mittelmächte, während sie in der Westschweiz von der Entente kontrolliert wurden. Das gesamte in der Schweiz verbreitete Kulturschaffen diente den beiden grossen Kriegsparteien für einen Stellvertreter-Propagandakrieg. Ab 1917 reagierten die Schweizer Behörden: Der sehr erfolgreiche Dokumentarfilm «Die Schweizerische Armee» zeigte die Manöver der Soldaten, welche die Grenzen bewachten. Er entstand im Rahmen der Bewegung zur Wiederherstellung der nationalen Einheit und betonte die identitätsstiftenden Werte der Schweiz.


Der allererste Film zum Schweizerischen Roten Kreuz?


Auch «Die Schweiz spielt unter den Nationen die Rolle des barmherzigen Samariters» ist in diesem Geist der patriotischen Kulturpropaganda zu sehen. Gedreht wurde dieser Film von der Compagnie Générale de Cinématographie de Genève im Juli 1918, als der Sieg der Alliierten bereits absehbar war. Er zeichnet das Bild einer geeinten, sich aufopfernden Schweiz, die sich wohlwollend den notleidenden Franzosen zuwendet, die vom deutschen Eroberer ins Exil getrieben wurden… Der Film belegt das humanitäre Engagement der Schweiz für französische Staatsangehörige und erhält damit eine unbestreitbare politische Dimension: Die lange verrufene, missverstandene und unter Druck stehende schweizerische Neutralität, die bei der Entente sehr schlecht angeschrieben war, erscheint hier als wirklich sinnvoll, nutzbringend und hilfreich.

Durch die Inszenierung des humanitären Werts ihrer Neutralität gewinnt die Schweiz in den Augen der künftigen Siegermächte, welche die Umrisse des neuen Europa festlegen werden, an Ansehen und Glaubwürdigkeit. In diesem Sinn lässt sich definitiv von einem Film mit humanitärer Propaganda sprechen. Zugleich ist dieses Werk von ganz besonderem historischem Wert: Unseres Wissens handelt es sich um das allererste Filmdokument, in dem das Schweizerische Rote Kreuz dargestellt ist. Auf jeden Fall ist es der älteste Film, den wir besitzen.

Die historischen Fakten


Mit Unterstützung des SRK organisierte die Eidgenossenschaft ab September 1914 Konvois, um internierte Zivilpersonen, Flüchtlinge und verletzte Kriegsgefangene durch ihr Hoheitsgebiet zu repatriieren. Sechs Monate später erklärte sich die Schweiz bereit, den Transport der sogenannten Evakuierten sicherzustellen. Dabei handelte es sich um Bewohnerinnen und Bewohner der von Deutschland besetzten französischen Gebiete. Aus Sicht der Besatzungsmacht behinderten diese Menschen, von denen die meisten als bedürftig, gebrechlich und unproduktiv galten, die Kriegsanstrengungen. Deshalb wurden sie über Schaffhausen und Basel in Richtung Annemasse und Evian abgeschoben.

Die Auslagen für die Versorgung der Reisenden wurden von der Schweiz getragen. So leisteten der Bund, die kantonalen Verwaltungen und die Bevölkerung ihren Beitrag zu diesem humanitären Grosseinsatz: In den Etappenorten Schaffhausen, Zürich, Basel, Bern, Lausanne und Genf bilden sich Komitees, um die Reisenden zu empfangen und ihnen einen Imbiss anzubieten. Krankenschwestern des SRK begleiteten die Züge und übernahmen die medizinische Versorgung in den Bahnhöfen.

Bis Oktober 1917 fuhren die Züge ab Schaffhausen quer durch die Schweiz nach Annemasse oder Evian. Danach wurde eine neue Route gewählt, die von Basel nach Evian führte. Damit liess sich die Distanz von Grenze zu Grenze um 75 Kilometer verkürzen. In einer Zeit, in der sich die Schweiz in grossen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand, liessen sich so Kohlen einsparen.


Das Basler Heimschaffungs-Komitee


Unter dem Vorsitz von Nationalrat Paul Speiser-Sarasin entstand in der Rheinstadt ein gewichtiges Heimschaffungs-Komitee. Ein Jahr lang wechselten sich rund 750 Freiwillige an sechs Tagen pro Woche ab, um die zweimal täglich eintreffenden Konvois mit 600 bis 650 Personen zu empfangen, die im Elsässerbahnhof Halt machten. Bevor die Evakuierten in Schweizer Bahnwagen umstiegen, wurden sie im mit Spruchbändern geschmückten Bahnhof aufs Herzlichste willkommen geheissen. 80 Prozent der Freiwilligen waren Frauen, darunter die Basler Philanthropin Mathilde Paravicini − später eine Pionierin bei der Organisation der humanitären Kinderzüge in der Schweiz − sowie zahlreiche Samariterinnen und Rotkreuz-Krankenschwestern.

Auf den Perrons wurden Baracken aufgebaut, in denen sich die Flüchtlinge mit Seife und warmem Wasser waschen konnten. Ein ehemaliger Wartesaal wurde zu einer Krankenstation mit 16 Betten umfunktioniert. Auf langen Tischen türmten sich gesammelte Kleider und Schuhe, die den Flüchtlingen abgegeben wurden. Ein Suchdienst nahm die persönlichen Angaben entgegen, um den Kontakt zu anderen in der Schweiz internierten Familienmitgliedern herzustellen oder um den Evakuierten zu ermöglichen, Nachrichten nach Frankreich zu senden. Unterdessen wurden die Kleinkinder in mehreren Krippen gewaschen, neu eingekleidet und betreut. Die Damen des Komitees kochten und servierten jeden Tag rund 1300 warme Mahlzeiten, zu denen manchmal Zigarren abgegeben wurden.

Gestärkt und mit Geschenken versehen machten sich die Reisenden danach wieder auf den Weg. Das Basler Komitee gab den Evakuierten verschiedenste Andenken mit, welche die Bevölkerung gespendet hatte. Es bestand sogar eine «Kleinkindersektion», die für die Abgabe von Spielsachen zuständig war. Das Komitee, das seine Tätigkeit über Spenden finanzierte, konnte auf die stetige Unterstützung der Bevölkerung zählen: Insgesamt kamen 300 000 Franken zusammen.

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