Das vergessene Kulturerbe Henry Dunants

 

Eine pathologische Anteilnahme


Tief betroffen vom entsetzlichen Gemetzel der Schlacht von Solferino, die er 1859 als einfacher Reisender zufällig miterlebte, ersann Dunant ein internationales humanitäres Hilfswerk: das Rote Kreuz. Danach legte der «Visionär» oder «Mann in Weiss», wie ihn seine Biografen nennen, auch den Grundstein für diese Bewegung, mit der sein Name auf immer verbunden bleibt. Es gelang ihm, seinen Zeitgenossen die Augen für die unmenschliche Behandlung der Kriegsverletzten zu öffnen, die auf dem Schlachtfeld oft einfach ihrem Schicksal überlassen wurden. In seinem bahnbrechenden Werk «Eine Erinnerung an Solferino» rief er die Staaten dazu auf, Hilfsgesellschaften mit ausgebildeten, einsatzbereiten Freiwilligen aufzubauen. Er empfahl auch die Festlegung von internationalen, von allen Parteien anerkannten Grundsätzen und legte damit das Fundament für das humanitäre Völkerrecht.
Doch seine Überlegungen zu den brennenden Fragen seiner Zeit und seine Fürsorge gegenüber besonders Schutzbedürftigen gingen noch weiter. Unablässig stellte Dunant seine Intuition, seinen Idealismus und seinen Mut in den Dienst weiterer wichtiger Anliegen: Bekämpfung der Sklaverei, Frauenrechte, Pazifismus usw. Alle diese Kämpfe führte er in einer äusserst bewegten Phase seines Lebens mit einer Kommunikationsgabe und Heftigkeit, die zuweilen an Wahnsinn grenzten.


Christliche Brüderlichkeit


Bevor Dunant zum brillanten Verbreiter der Rotkreuz-Idee wurde, als der er bekannt ist, nutzte er sein Talent als Kommunikator zunächst in Bibelgruppen: Zusammen mit einigen Freunden führte er «Donnerstagstreffen» zur sittlichen und geistigen Erbauung der Jugend ein. Aus diesen wöchentlichen Zusammenkünften ging 1852 der Genfer Christliche Verein Junger Männer (CVJM) hervor. Als Sekretär und Korrespondent dieses Vereins baute Dunant ein solides internationales Netzwerk mit jungen europäischen Protestanten auf. So wurde er einer der Hauptinitianten des Weltbunds der CVJM, der drei Jahre später in Paris gegründet wurde.
Als ihn danach seine Kolonialgeschäfte in Algerien in Anspruch nahmen, zog er sich aus den Aktivitäten der Christlichen Vereine zurück. Diese hatten ihm jedoch ermöglicht, seine Neigung zum Evangelisieren zu entwickeln. Der Grundlagentext der CVJM, der Dunant zugeschrieben wird, ist noch heute in Kraft:


« Die Christlichen Vereine Junger Männer haben den Zweck, solche jungen Männer miteinander zu verbinden, welche Jesus Christus nach der Heiligen Schrift als ihren Gott und Heiland anerkennen, in ihrem Glauben und Leben seine Jünger sein und gemeinsam danach trachten wollen, das Reich ihres Meisters unter jungen Männern auszubreiten ».


Das Wesen des Menschen bewahren


Dunants Geschäfte in Algerien scheiterten. 1867 verurteilte ihn die Genfer Justiz wegen betrügerischen Konkurses und er musste von seinem Amt als Sekretär des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zurücktreten. Ruiniert, enttäuscht und von seinen Gläubigern verfolgt, denen er seine Schulden nie zurückzahlen konnte, blieb dem Genfer Philanthrop keine andere Wahl, als seine Stadt zu verlassen. Zum sozialen Abstieg kamen Exil, Kummer, Einsamkeit und Armut hinzu.
Weniger bekannt ist, dass Dunants produktiver Geist in diesen schwierigen Jahren keineswegs versiegte. Davon zeugt zunächst sein Plan für eine «internationale Universalbibliothek», zu der ihn ein italienischer Geschäftsmann namens Max Grazia angeregt hatte. Die Idee war, alle Meisterwerke des menschlichen Denkens über die Jahrhunderte in einer umfassenden Sammlung zusammenzutragen, mit dem Ziel, die Gesinnung zu stärken und die Verständigung unter den Völkern zu fördern. Diese Bestrebungen wurden 1870 durch den Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs vereitelt und kamen nicht über das Projektstadium hinaus. Doch mit der Lancierung der digitalen Weltbibliothek der UNESCO, die das kulturelle Erbe der Menschheit bewahren soll, wurde diese Idee 2009 dennoch Wirklichkeit.

 
« Etwas überdauert stets den Ruin von Ländern und den Zerfall von Reichen; es sind die Ideen, diese Sterne des Denkens, die dazu bestimmt sind, nach und nach das zu bilden, was als moralisches Firmament bezeichnet werden könnte ».
Henry Dunant, L’avenir sanglant, Genf: Editions Zoé, 1994, S. 17


Von einer menschlicheren Kriegsführung zur Verhinderung von Konflikten


Nachdem die blutige Schlacht von Solferino Dunant erstmals mit den Schrecken des Krieges konfrontiert hatte, setzte er sich dafür ein, Leiden zu lindern, nicht jedoch die Kriegsführung anzuprangern. Damals war es schlicht undenkbar, den Krieg an sich in Frage zu stellen, der als das äusserstes Mittel der internationalen Diplomatie galt.


« Ich gehe hier weder auf das schwierige Problem der Legitimität des Krieges noch auf den momentan unmöglichen Traum von einer weltweiten Herrschaft des Friedens ein ».
Henry Dunant, La charité sur les champs de bataille: suite du Souvenir de Solférino et résultats de la Conférence internationale de Genève, Genf, 1864, S. 6


Doch rund zehn Jahre später, nach dem Deutsch-Französischen Krieg, änderte Dunant seine Meinung. Er stellte fest, dass das Rote Kreuz allein das Unheil nicht beseitigen konnte, zu dem die Konflikte führten. Daher beschloss er, seine Anstrengungen auf die Möglichkeiten zu konzentrieren, Konflikte zu verhindern und einzudämmen. Und die «Alliance universelle de l’ordre et de la civilisation» bot ihm Gelegenheit, seine neuen Ideen zu äussern. Dieser 1871 in Paris gegründete Weltbund für Ordnung und Kultur setzte auf Fortschritt, Gerechtigkeit und moralische Prinzipien und hoffte, damit die Bewahrung der Gesellschaftsordnung und des Friedens sicherstellen zu können. Dunant richtete das Programm des Weltbunds auf den Kampf gegen die Sklaverei, den Schutz der Kriegsgefangenen sowie auf die Frage eines internationalen politischen Schiedsverfahrens aus. Für eine solche Schiedsgerichtsbarkeit trat er auch als Sekretär der «Peace Society» ein.

« Das Schiedsverfahren ist eine dieser Ideen, einer dieser Sterne des Denkens, die viele heute noch als hochtrabende Utopie betrachten. Vielleicht entwickelt es sich jedoch schon bald zu einem geradezu ständig verfügbaren und regelmässig genutzten diplomatischen Verfahren. Denn oft ist die Utopie von heute die Realität von morgen ».
Henry Dunant (um 1890), L’avenir sanglant, Genf: Editions Zoé, 1994, S. 17


Ist dies als eigentliche Weiterentwicklung von Dunants Denken zu sehen oder kommt hier vielmehr etwas zum Ausdruck, was er seit jeher in sich trug: eine angeborene Abneigung gegen jede Art von Gewalt? Auf jeden Fall nahm diese Ahnung Dunants die Entstehung der grossen internationalen Organisationen für Recht, Zusammenarbeit und Frieden voraus: Schiedsgerichthof in Den Haag (1899), Völkerbund (1919) und Vereinten Nationen (1945).


Feminismus und Pazifismus


In den 1890er-Jahren nahm sich Dunant, der sich unterdessen nach Heiden zurückgezogen hatte, einer neuen Sache an – der Überwindung des Krieges. Rund 30 Jahre nach seiner «Erinnerung an Solferino» verfasste er ein eigentliches Pamphlet gegen den Militarismus, in dem er sich direkt gegen den Krieg stellte. Offen prangerte er in «L’avenir sanglant» die Gewaltanwendung an, die hauptsächlich auf Chauvinismus, Traditionalismus, Unwissenheit und Elend zurückzuführen sei.
Aus seiner Sicht hatte diese zerstörerische Gewalt ihren Kern in den männlichen Prinzipien. Dunant stellte ihr die Tugenden Hingabe, Mitleid, Weisheit, Intelligenz, Sanftheit und Frieden entgegen, die er den Frauen zuschrieb. Der unbestreitbare moralische Einfluss der Frauen auf die Gesellschaft würde zu mehr Harmonie unter den Nationen beitragen, wie er schrieb. Dunant war überzeugt vom Heil, das die Frau der Welt bringen könnte, und von ihrer zivilisierenden Rolle. Um sie zu schützen und der Ungerechtigkeit ihrer Unterjochung ein Ende zu setzen, dachte er sich eine Organisation aus, allerdings noch immer nach einem paternalistischen Muster: das Grüne Kreuz. Doch dieser feministische Weltbund, dessen Grundzüge er 1893 entwarf, kam abgesehen von einer ganz kurzen Episode in Belgien nie zustande.


« Heute ist es die Frau, der die Bewahrung der Gesellschaft zukommt, viel eher als den 22 Millionen europäischen Soldaten, deren Bajonette von Gibraltar bis zum Ural und von Palermo bis ins Baltikum glänzen ».
Henry Dunant, Mémoires, Text zusammengestellt von Bernard Gagnebin, Lausanne: L’Âge d’Homme, 1971, S. 213


1895 gelangte der Pensionär in Zimmer 12 des kleinen Appenzeller Spitals durch einen Artikel des St. Galler Journalisten Georg Baumberger wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Er lernte die streitbare österreichische Pazifistin Bertha von Suttner kennen, die ihn aufforderte, sich ihrer Bewegung anzuschliessen. Dunant engagierte sich leidenschaftlich. Er trat der Gesellschaft der Friedensfreunde bei und stellte seine Feder, sein Talent und sein Ansehen in den Dienst der pazifistischen Bewegung.
Den Höhepunkt seines Lebens, das ganz vom Streben nach Menschlichkeit geprägt war, bildete der erste Friedensnobelpreis, der ihm 1901 verliehen wurde. Doch Dunants unveränderte Begeisterung für die grossen universalen Anliegen hatte ihren Gegenpol in einer eher düsteren und pessimistischen oder gar apokalyptischen Sicht der menschlichen Geschichte, deren prophetische Akzente nicht unberührt lassen:


« Unter den Völkern einer Christenheit, die vom Geist Christi weit entfernt ist, breitet sich zunehmend eine Atmosphäre von Misstrauen oder Hass aus. […] Und welche tragischen Anblicke werden uns zuteil werden, wenn die Stunde des Kampfgetümmels schlägt, wenn der Zeitpunkt dieser angeblich ritterlichen Schwärmereien gekommen ist, in dem die grossen Nationen wilden Tieren gleich übereinander herfallen werden, blind vor Wut und in rasendem Wahn? […] Zu erwarten sind, ohne dass sich die Abfolge der Ereignisse bestimmen lässt: Revolutionen, verbunden mit Anarchie, gefolgt von neuen Tyranneien, die ebenso verschwinden werden wie die vorhergehenden; eine Vergeltung mit unvorhersehbarem Ausgang im Duell zwischen lateinischen und germanischen Völkern, ein gigantischer Kampf, der sich wahrscheinlich zum Unglück aller wiederholen wird. […] Kurz wiedergegeben bleibt dies: Blut, Blut und noch mehr Blut, allenthalben Blut! »
Henry Dunant (um 1890), L’avenir sanglant, Genf: Editions Zoé, 1994, S. 42-44

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