Das Erdbeben von Messina
Am Montag, 28. Dezember 1908, wurden die Menschen in Süditalien noch vor dem Morgengrauen durch sehr heftige Erdstösse aus dem Schlaf gerissen. Das Erdbeben traf die Stadt Messina mit voller Wucht. Zudem löste es eine Flutwelle und zahlreiche Brände aus, die tagelang wüteten. Die Naturkatastrophe verwandelte die sizilianische Stadt in ein Trümmerfeld und forderte unzählige Opfer: Mehr als die Hälfte der 140'000 Einwohnerinnen und Einwohner von Messina verloren ihr Leben. Das gleiche Schicksal ereilte die Stadt Reggio Calabria auf der anderen Seite der Meerenge. Ausserdem zerstörte das verheerendste Erdbeben, das in Europa je zu verzeichnen war, viele kleine Dörfer. Insgesamt waren über 200'000 Tote und Verwundete zu beklagen, und beinahe ebenso viele Menschen wurden obdachlos.
Der erste humanitäre Einsatz des SRK in Friedenszeiten
Wie zahlreiche andere nationale Rotkreuzgesellschaften bot das SRK den Opfern der Katastrophe unverzüglich seine Hilfe an. Am 2. Januar 1909 wurde eine nationale Sammelaktion lanciert. Der Spendenaufruf wurde in allen wichtigen Zeitungen des Landes veröffentlicht:
«Nicht untätig darf die Schweiz zusehen, wenn ihr Nachbarland, mit dem sie durch zahllose Fäden der Sprache, des Verkehrs und der Bildung verbunden ist, von einem Schicksalsschlag heimgesucht wird, gegen den es keine Versicherung gibt und der nur durch die allgemeinste werktätige Teilnahme gemildert werden kann.»
Das Ausmass der Tragödie liess die Schweizer Bevölkerung nicht unberührt. So konnte das Schweizerische Rote Kreuz erstmals in seiner Geschichte im Zusammenhang mit einer Naturkatastrophe Hilfe leisten. «Besonders empfindet das schweizerische Rote Kreuz die Ehrenpflicht, das Banner der Humanität nicht nur im Kriege hochzuhalten, sondern auch in Friedenszeiten den notleidenden Nachbarn beizustehen. Ist die Not auch eine räumlich weitentfernte, die Liebe, die sich verbunden fühlt, mit allem, was Mensch heisst und unglücklich ist, bringt sie unserm Herzen nahe», hiess es im Aufruf vom 2. Januar weiter.
Innerhalb kurzer Zeit gingen so viele Spenden ein, dass Mitte Januar eine erste Hilfslieferung nach Sizilien gesandt werden konnte. Zwei Delegierte des SRK, der Neuenburger Major Carle de Marval und der Berner Eugen Flückiger, begleiteten zwei Eisenbahnwaggons mit lebensnotwendigen Hilfsgütern nach Italien: 500'000 Rationen Kondensmilch, 2500 Decken, 4000 kg Verbandmaterial, 2000 kg Schokolade und Zucker sowie 4000 Kleidungsstücke. Am 25. Januar verliess ein zweiter Hilfskonvoi die Schweiz in Richtung Sizilien. Diesmal bestand die Lieferung aus zwölf Eisenbahnwaggons mit Bauholz für die Errichtung von Notunterkünften.
Wiederaufbauhilfe: Schweizer Chalets in Süditalien
Von insgesamt rund 550'000 Franken verfügte die Direktion des SRK nach der Nothilfephase noch über knapp 400'000 Franken. Ein Teil dieser Summe wurde an Schweizer Staatsangehörige verteilt, die von der Katastrophe direkt betroffen waren. Anschliessend wurde beschlossen, die restlichen 320'000 Franken für den Bau von Wohnhäusern zu verwenden, um Familien wieder ein Dach über dem Kopf zu bieten. Das Bauland wurde von der italienischen Regierung unentgeltlich zur Verfügung gestellt. In Absprache mit ihr wurden diese Wohnhäuser in den Gemeinden Reggio und Messina errichtet. Die Rotkreuzsektion Neuenburg erklärte sich bereit, alle technischen Fragen im Zusammenhang mit dem Bau der Häuser zu klären.
Die Unterkünfte im Stil von Schweizer Chalets wurden so konzipiert, dass sie Erdbeben standhalten konnten. Das benötigte Baumaterial wurde kostenlos nach Kalabrien und Sizilien transportiert. Dort wurden die Häuser unter der Leitung des Schweizer Ingenieurs M. Spychiger errichtet, der in Kalabrien lebte. Es wurden zwei Arten von Zweifamilienhäusern erstellt: Der für den ländlichen Raum bestimmte Typ bestand aus vier Zimmern und zwei Küchen. Die anderen Häuser wurden in einem eher bürgerlichen Stil erstellt und umfassten acht Zimmer und zwei Küchen.
Im November 1909 schloss das Rote Kreuz seinen Einsatz in Süditalien ab. In den beiden Schweizer Dörfern in Messina (21 Chalets) und Reggio (16 Chalets) fanden 74 Familien, das heisst insgesamt über 400 Menschen, ein neues Zuhause.