Internierung der «Bourbaki-Armee» in der Schweiz

Am 1. Februar 1871 wurde die französische Ostarmee, die unter dem Kommando von General Bourbaki stand, in der Schweiz interniert. Die Internierung markierte den endgültigen Wendepunkt im Deutsch-Französischen Krieg und war ein Meilenstein in der Geschichte der schweizerischen Neutralitätspolitik. Innerhalb von weniger als 72 Stunden überquerten 87'847 französische Soldaten die Grenze. Dabei handelte sich zweifellos um die grösste Flüchtlingsaufnahme in der Schweizer Geschichte. Zudem war dieses Ereignis ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK), welches erst vier Jahre zuvor gegründet worden war.

Von einer militärischen Katastrophe ...

Die Kapitulation von Kaiser Napoleon III am 2. September 1870 in Sedan führte zum Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs. Wenige Tage später wurde Paris von den Preussischen Truppen belagert. Doch die in Paris gebildete nationale Regierung, welche die Republik ausrief, wollte den Kampf fortführen. In aller Eile wurde eine Provinzarmee unter der Führung von General Bourbaki aufgestellt, um die Invasoren abzuwehren und Paris zu befreien. Es wurde eine letzte Gegenoffensive durch die Franche-Comté gestartet mit der Absicht, die deutschen Stellungen zu zerstören. Doch trotz einiger Teilsiege erlitt die Bourbaki-Armee im Januar 1871 in der Nähe von Héricourt eine schwere Niederlage.

Als die französische Ostarmee am Jurafuss in die Zange genommen wurde, zogen sich die vom Nachschub abgeschnittenen Truppen ohne Ausweichmöglichkeit nach Pontarlier Nahe der Schweizer Grenze zurück. Doch das Näherrücken der Militäroperationen bereitete der französischen Armee grosse Sorgen: Wird die Neutralität des Landes respektiert werden? Wird sich die entscheidende Schlacht gar auf helvetischem Boden ereignen? Werden die einberufenen Wehrmänner ihr Land an der Grenze mit der Waffe verteidigen?

Schliesslich verging die Angst der Soldaten vor einer Konfrontation dank des guten und friedlichen Ausgangs: Die Bourbaki-Soldaten wurden in der Schweiz aufgenommen, nachdem sie ihre Waffen an der Grenze abgegeben hatten. Die Aufnahmebedingungen wurden in der Internierungsvereinbarung, die mitten in der Nacht vom 1. Februar im Neuenburger Dorf Les Verrières unterzeichnet wurde, festgehalten. Darin wurde zudem festgelegt (Artikel 2), dass die Rückgabe der Waffen, der Ausrüstung und der Munition an Frankreich vorbehaltlich der Rückerstattung der «von den französischen Truppen während ihres Aufenthalts in der Schweiz entstandenen Kosten» erfolge.

... zu einem humanitären Akt

Die unmittelbar betroffene Neuenburger und Waadtländer Bevölkerung leistete Nothilfe für die geflüchteten Soldaten, die von Kälte, Hunger und Durst gebeutelt waren. In aller Eile wurden Lebensmittel, Kleider, Decken, Schuhe und Brennholz organisiert und verteilt. Von den zahlreichen Schwerverletzten und Kranken wurden rund 5'000 Männer unverzüglich in verschiedene Spitäler transportiert. Die übrigen Wehrmänner wurden landeinwärts gebracht und während sechs bis acht Wochen in insgesamt 188 Orten in allen Schweizer Landesteilen – mit Ausnahme des Tessins – untergebracht.

«Die Militärverwaltung konnte lediglich Brot – und manchmal Wein – an die zu Fuss oder mit der Eisenbahn ankommenden oder wieder abreisenden Soldatenströme verteilen. Den Rest leisteten Privatpersonen durch ihr wohltätiges Engagement. Ein Ruf des öffentlichen Ausrufers zu jeder beliebigen Uhrzeit genügte und schon wurden massenhaft Suppen und Hilfe jeglicher Art bereitgestellt.»

Bericht über die Internierung der französischen Truppen im Kanton Freiburg


Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) spielte eine wichtige Rolle bei der Aufnahme der Bourbaki-Armee in der Schweiz. Dank seiner engen Zusammenarbeit mit den Behörden bildete es das Rückgrat des Hilfseinsatzes  und wurde zum Symbol schlechthin für eine aktive Neutralität und Solidarität.

Bewährungsprobe für das SRK

Das am 17. Juli 1866 gegründete Schweizerische Rote Kreuz (SRK) basiert auf dem föderalistischen Modell. Es setzte sich anfänglich aus einem nationalen Komitee mit 44 Mitgliedern – zwei Vertretern pro Kanton – sowie einer fünfköpfigen Exekutivkommission zusammen. Es fehlte ihm jedoch an Rückhalt in den Kantonen. Anfänglich entstanden lediglich einige wenige lokale Sektionen: Genf im Jahr 1864; Basel-Stadt, Herisau, Zürich, Teufen und Thurgau 1866; Altdorf und Solothurn 1867 und Winterthur 1868.

Angesichts des Ausbruchs des Deutsch-Französischen Kriegs startete das SRK einen Aufruf «an die gesamte Schweizer Bevölkerung, an die patriotischen Einrichtungen, an alle, denen das Gemeinwohl am Herzen liegt». Damit rief es zur Gründung von kantonalen Hilfsgesellschaften auf, von denen es bis dahin nur wenige gab. In der Folge wurden 1870 rund 20 lokale Sektionen ins Leben gerufen. Gemäss ihrem Auftrag hatten diese zuerst ihrer nationalen Aufgabe nachzukommen und sich um die Bedürfnisse der einberufenen Schweizer Wehrmänner und deren Familien zu kümmern.

Solidarität des Roten Kreuzes

Zusammen mit 11 weiteren Rotkreuzgesellschaften von neutralen oder nicht am Konflikt beteiligten Staaten unterstützte das SRK seine französische und deutsche Schwestergesellschaft und war somit Teil der grossen internationalen Solidaritätsbewegung zugunsten der Kriegsverletzten. Es entsandte Sanitätspersonal und Hilfsgüter auf die Schlachtfelder: Schweizer Ärzte, Sanitäter und Ordensschwestern kümmerten sich um die verwundeten Soldaten in den Lazaretten und Spitälern der beiden kriegsführenden Armeen. Gleichzeitig organisierten die kantonalen Delegierten öffentliche Sammelaktionen. Die Geld- und Sachspenden wurden an die verwundeten Soldaten beider Konfliktparteien verteilt; an die Schweizer Kolonie in Paris sowie an die aus der Stadt Strassburg evakuierten Zivilpersonen.  

«Neben unserer eigentlichen Tätigkeit als Hilfsgesellschaft zugunsten von Kriegsverwundeten, kümmerten wir uns schliesslich um jegliches durch den Krieg verursachtes Leid. Deutsche, Franzosen, Soldaten, Zivilpersonen, Männer, Frauen, Kinder: Alle unter den Folgen dieser Katastrophe leidenden Personen verdienten unser tiefstes Mitgefühl.»

Bericht der Neuenburger Sektion des SRK, 1. Juli 1871

 

Neutralität und Menschlichkeit

Der Bundesrat anerkannte in seinem Schreiben an die Bundesversammlung vom 17. Dezember 1870 die Vorteile der aktiven Neutralität und der Solidarität:

«Die Schweiz hat durch ihre […] anderweitige Betheiligungen für die Verwundeten der beiden kriegführenden Nationen, sowie durch die zwei Pendants bildenden Akte der Verpflegung der ausgewiesenen Deutschen und der Hilfeleistung für Strassburg auch ihre thätige Theilnahme an den Leiden ihrer Nachbarvölker zu dokumentiren gesucht und sich das Zeugniss errungen, dass sie ihre Neutralitätsverpflichtungen nicht nur loyaler, sondern auch in humaner Weise erfüllt habe».   

Diese offizielle Erklärung kann als Geburtsstunde der «humanitären Schweiz» angesehen werden. Weniger als zwei Monate vor der Internierung der Bourbaki-Soldaten, nahm die Eidgenossenschaft diese ehrenvolle Aufgabe von internationaler Bedeutung an. Es liegt jedoch auf der Hand, dass sie dies nicht ohne politische Hintergedanken tat: Indem die Schweiz ihren wohltätigen Einsatz pries, untermauerte sie ihr Neutralitätsprinzip, das nunmehr nützlich und vorteilhaft sein sollte. Die starke Rhetorik rund um die Aufnahme der Bourbaki-Soldaten in der Schweiz ist aus diesem Blickwinkel zu verstehen. Das in Luzern ausgestellte Bourbaki-Panorama ist ein eindrucksvolles Abbild dieser Rhetorik.

Zurück zum Seitenanfang