Aufnahme von kriegsversehrten Kindern

Ab November 1940 organisierte die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder sogenannte Kinderzüge, die kriegsversehrte Kinder aus Frankreich in die Schweiz brachten. In dieser Arbeitsgemeinschaft waren mehrere Schweizer Hilfswerke zusammengeschlossen, unter anderem Pro Juventute, Caritas, das Schweizerische Arbeiterhilfswerk und der Schweizerische Katholische Frauenbund. Die Kinder wurden während dreier Monate bei Gastfamilien untergebracht, wo sie sich von den widrigen Umständen in ihrer Heimat erholen konnten. 

Die vorübergehende Aufnahme dieser Kinder in der Schweiz stand unter der Leitung einer zentralen Unterbringungskommission, der kantonale Komitees unterstellt waren. Diese waren für die Auswahl der Gastfamilien, die Verteilung der Kinder auf die Familien und die Aufsicht über die Kinder während ihres Aufenthalts zuständig. Bis Ende 1941 organisierte die Arbeitsgemeinschaft für insgesamt 5099 Kinder aus Frankreich (2202 aus der freien Zone und 2897 aus den besetzten Gebieten) sowie für 2025 Kinder aus Belgien Aufenthalte in der Schweiz. 

Zuflucht für kriegsversehrte Kinder aus Europa

Aus dem durch den Bundesrat angeordneten Zusammenschluss der Arbeitsgemeinschaft mit dem SRK entstand 1942 die Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK-Kinderhilfe). Diese Organisation war von Anfang an vor allem bestrebt, die Kapazitäten für die Aufnahme von sogenannten «kriegsgeschädigten Kindern» in der Schweiz auszubauen. So konnte zum einen mehr Kindern geholfen werden. Zum anderen bot sich die Möglichkeit, die humanitäre Arbeit des SRK der Öffentlichkeit nahezubringen und die Bevölkerung zu noch grosszügigeren Spenden zu veranlassen. Die Schweiz sollte zu einem Zufluchtsort für kriegsversehrte Kinder werden. Für ein Land, das sich auf seine Neutralität berief, hatte diese Absicht auch eine moralische und symbolische Dimension. Diesen Standpunkt vertrat auch der Schweizer Arzt Hugo Oltramare, einer der Hauptinitianten der Kinderhilfe:

«Die Schweiz ist eine Oase des Friedens und der Sicherheit. Als sonniges Land mit frischer Luft und prächtigen Bergen ist sie bestens geeignet, um zu einem Zufluchtsort für leidende Kinder aus ganz Europa zu werden. Deshalb können wir für kriegsversehrte Familien viel mehr Hilfe leisten, als dies bisher vorgesehen ist. Dabei geht es nicht mehr darum, ein Hilfswerk zu konzipieren, das von internationalen Organisationen mehr oder weniger unabhängig ist. Vielmehr muss die ganze Schweiz entsprechend ihren Traditionen ihre Verantwortung gegenüber Europa wahrnehmen.» (Serge Nessi, La Croix-Rouge suisse au secours des enfants 1942–1945 et le rôle du docteur Hugo Oltramare, Genf: Slatkine, 2011, S. 33) 

Gemeinsam mit den Schweizer Behörden plante die SRK-Kinderhilfe, die Kinderzüge in die Schweiz auf andere Krieg führende Staaten auszuweiten. Gestützt auf Schätzungen wurde davon ausgegangen, dass pro Quartal etwa 10'000 Kinder, das heisst rund 40'000 pro Jahr, aufgenommen werden könnten. Diese Zahl wurde allerdings nie erreicht. Doch mit 17'691 aufgenommenen Kindern im Jahr 1942 konnte immerhin eine Vervierfachung erreicht werden. Am stärksten vertreten waren weiterhin die französischen Kinder: Von den insgesamt 160'000 5- bis 13-Jährigen, die von 1940 bis 1949 vorübergehend in der Schweiz betreut wurden, stammten knapp 70'000 aus Frankreich. Jüdische Kinder waren nie zu den Kinderzügen zugelassen, obwohl sie der Gefahr ausgesetzt waren, deportiert zu werden. Das SRK war zu eng mit den Behörden verbunden, als dass es sich gemäss seinen universellen Grundsätzen gegen die Verhärtung der Asylpolitik des Staates hätte wenden können.

Ab 1949 lag der Schwerpunkt der SRK-Kinderhilfe auf Kindern aus osteuropäischen Ländern. Odette Micheli, Delegierte der Kinderhilfe in Paris, schilderte die Hindernisse, die überwunden werden mussten, um die Kindergruppen bis zur Schweizer Grenze zu bringen: 

«Wer nicht im besetzten Frankreich gelebt hat, kann sich wohl kaum vorstellen, wie schwierig es war, so viele Kinder kurzzeitig in einer Grossstadt unterzubringen, sie von den Bahnhöfen zum Aufnahmezentrum und wieder zurück zu bringen, sie neu zu gruppieren, zu verpflegen, zu entlausen sowie ärztlich untersuchen und röntgen zu lassen. Um zu verstehen, welche Probleme mit jedem Kinderzug verbunden waren, muss man den Treibstoffmangel, die Lastwagen mit Holzvergaser, die selten fahrenden und völlig überfüllten U-Bahnen, die Stromausfälle, die häufigen Fliegeralarme, die das öffentliche Leben zum Erliegen brachten, die strengen Luftschutzvorschriften, die ständigen Versorgungsprobleme und die Erschöpfung der oftmals sehr schwachen und psychisch angeschlagenen Kinder selbst miterlebt haben.» (Aperçu sur l’activité de la Croix-Rouge suisse, secours aux enfants en France, 1942–1947, Genf: herausgegeben vom Schweizerischen Roten Kreuz, undatiert, S. 25) 

Eine Oase des Friedens mit ausreichender Lebensmittelversorgung

Ab 1942 konnten mehr ausländische Kinder vorübergehend in der Schweiz aufgenommen werden, da die Auswahlkriterien geändert wurden. Zuvor hatten diese Kriterien auf dem eher unbestimmten Begriff «kriegsgeschädigte Kinder» beruht, der Waisen, obdachlose Kinder und Kinder von Kriegsgefangenen umfasste. Nach der Gründung der SRK-Kinderhilfe waren für die Auswahl der Kinder nur noch medizinische Kriterien massgebend. 

Auf die bedürftigen, traumatisierten und verlassenen Kinder folgten nun Kinder, die an Unter- oder Mangelernährung litten. Viele hatten Flöhe oder Läuse oder litten an Krätze oder Tuberkulose. Es wurde befürchtet, in der Schweiz könnten sich ansteckende Krankheiten verbreiten. Vor dem Grenzübertritt waren daher eine ärztliche Untersuchung, die vollständige Desinfektion der Kleider und Schuhe, das Entlausen sowie das Waschen von Kopf bis Fuss obligatorisch. Ungefähr 15 Prozent der Kinder wurden direkt nach ihrer Ankunft in der Schweiz in ein Spital gebracht. In Genf richtete man im ehemaligen Hotel Carlton-Parc, dem heutigen Sitz des IKRK, ein Aufnahmezentrum ein, das Centre Henry Dunant. 

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