Aufnahme von Flüchtlingen aus Ungarn

Anfang der 1950er-Jahre wurden das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) gegründet und das Genfer Übereinkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ratifiziert. Damit verfügte die internationale Gemeinschaft über Institutionen und Rechtsvorschriften, um die Flüchtlingsproblematik umfassend anzugehen. Ab diesem Zeitpunkt stand die Asylpolitik des Bundes mehr denn je im Sog der internationalen Politik: Der ideologische Konflikt zwischen dem Osten und dem Westen sowie die Krisen im Rahmen der Entkolonialisierung lösten in den nachfolgenden Jahrzehnten mehrere Flüchtlingswellen aus, von denen auch die Schweiz betroffen war.

In den letzten Oktobertagen des Jahres 1956 ging die Bevölkerung in Ungarn auf die Strasse. Mit Bestürzung sah die westliche Welt zu, wie die sowjetischen Streitkräfte den Aufstand brutal niederschlugen. Zu Tausenden flohen die Menschen aus Ungarn Richtung Westen, um der Bedrohung durch die sowjetischen Panzer und der Unterdrückung zu entkommen. Wie in anderen Ländern wurden sie auch in der Schweiz mit offenen Armen empfangen. Da die meisten ungarischen Flüchtlinge über eine solide Ausbildung verfügten und die kulturellen Werte des Aufnahmelandes teilten, integrierten sie sich sehr rasch und problemlos. 

Eine überwältigende Welle der Solidarität

Getragen von einer enormen Welle der Solidarität und vom Engagement der Bevölkerung leistete das SRK eine immense Arbeit. Damit legte es den Grundstein für eine offene und grosszügige Politik bei der Aufnahme der Flüchtlinge, die von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs stammten. Die Massnahmen des SRK waren auf drei Schwerpunkte ausgerichtet: Versand von Hilfsgütern nach Ungarn, Unterstützung des Nachbarlands Österreich, das von einem nicht abreissenden Flüchtlingsstrom überflutet wurde, und Aufnahme von ungarischen Flüchtlingen in der Schweiz. 

An Weihnachten, das heisst zwei Monate nach Beginn der umfangreichen Anstrengungen, konnte das SRK eine eindrückliche Bilanz vorweisen: Im Rahmen der Sammelaktion für Ungarn hatten die Schweizerinnen und Schweizer sechs Millionen Franken und knapp zwei Millionen Hilfspakete gespendet. Zehn Lastwagenkonvois hatten die Nothilfegüter nach Budapest gebracht. Ausserdem hatte das SRK 35 Eisenbahnwagen mit Lebensmitteln und Kleidern für die Flüchtlingslager nach Österreich gesandt. Insgesamt entsprach dies mehr als 1200 Tonnen Sachspenden. Um das österreichische Personal zu entlasten, übernahmen Hilfsteams des SRK die Leitung von drei Flüchtlingslagern in der Umgebung von Wien und Linz. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung zeigte sich auch auf einer sehr persönlichen Ebene: In den Blutspendezentren des Roten Kreuzes stellten fast 10'000 Schweizerinnen und Schweizer spontan ihr Blut für die Menschen zur Verfügung, die am Volksaufstand teilgenommen hatten. 

Bedingungslose Aufnahme der Flüchtlinge 

Das dringendste Problem war die Betreuung der 180'000 Ungarinnen und Ungaren, die ihr Heimatland verlassen hatten. Am 13. November beschloss der Bundesrat, ein Kontingent von 4000 Flüchtlingen in die Schweiz einreisen zu lassen. Angesichts der Dringlichkeit der Lage wurde rund zehn Tage darauf ein zweites Kontingent von 6000 Personen aus Ungarn aufgenommen. Bis Ende 1956 hat man so 10'000 ungarischen Flüchtlingen eine bedingungslose Aufnahme in der Schweiz gewährt. 

Das SRK war für den Transport der Flüchtlinge in die Schweiz zuständig. Dabei konnte es auf die grosszügige Mitarbeit der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und der Post, Telefon- und Telegrafenbetriebe (PTT) zählen. Die PTT stellten 25 Postautos und 30 Begleitpersonen zur Verfügung. Damit wurden die Flüchtlinge von den österreichischen Aufnahmelagern zu den Bahnhöfen gebracht, an denen Extrazüge des SRK auf sie warteten. Für den Transport in die Schweiz wurde auch ein Spitalzug des SRK eingesetzt, der bis zu 356 Patienten aufnehmen konnte. An Bord dieses Zuges, der zwischen den österreichischen Lagern und dem Militärspital in der Lenk (Kanton Bern) verkehrte, standen 20 Krankenschwestern und 25 Soldaten der Rotkreuzkolonnen im Einsatz. 

Zentrale Rolle des SRK bei der Integration

Nach ihrer Ankunft in der Schweiz wurden die Flüchtlinge zunächst in 125 Heimen in den Kantonen Basel-Landschaft, Bern, Glarus, Luzern, St. Gallen, Tessin, Waadt und Wallis untergebracht. Vorübergehend kam das Rote Kreuz für ihren Unterhalt auf (Verpflegung, Bekleidung, medizinische Versorgung, Taschengeld). Anschliessend übernahmen die Kantone in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe die Unterbringung der Flüchtlinge in Privatwohnungen und die berufliche Integration in der Schweiz. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten beteiligten sich die lokalen Rotkreuzsektionen aktiv am Integrationsprozess. Nachdem das SRK von der direkten Unterstützung der Flüchtlinge entbunden worden war, erhielt es ab Januar 1957 eine neue Aufgabe: Nun betreute es jugendliche ungarische Flüchtlinge bis zu ihrer Volljährigkeit. Diese Aufgabe nahm das SRK bis Mitte der 1960er-Jahre wahr.

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